eine behindertenfreundliche gesellschaft sieht anders aus

Klingel mit Rollstuhlsymbol (c) BrandtMarke / pixelio.de

Klingel mit Rollstuhlsymbol (c) BrandtMarke / pixelio.de

am letzten freitag tagte im neuen rathaus der behindertenbeirat der stadt leipzig. unter anderem war ein thema die auswertung einer umfrage in arztpraxen in leipzig. ergebnis: die ausstattung, die behandlungsmethoden sowie auch der barrierefreie zugang liesen noch viele wünsche offen. im rahmen der veranstaltung, deren thema „integration in die regelschule“ hieß, blieben für mich als nicht behinderter mensch mit guten augen und guten ohren viele organisatorische fragen offen. ich hatte mühe die interessanten, mit zahlen angereicherten folien zu lesen, da die schriftgröße mich in der 4. sitzreihe in die knie zwang. wie fühlte sich meine nachbarin informiert, die offensichtlich sehbehindert war?

das gesprochene wort wurde mittels stenografie auf eine 80 x 70 cm große leinwand projeziert. dabei passierten schwere inhaltliche fehler, die den sinn der sätze nachhaltig veränderten. ich höre gut und konnte vieles im sinn zusammenhang erfassen. wie ging es meinem vordermann, der offensichtlich taubstumm war? hat er anhand der an ihn übermittelten informationen die chance zum gleichen schluss zukommen?

wir leben in einer gesellschaft, in der jede information wichtig ist und zu einem klarem wissensvorteil führen kann, wenn ich die chance habe sie mit allen sinnen zu erfassen. für mich ist dabei vor allem die aufbereitung wichtig, das medium und das hilfsmittel mit dem sie mir übertragen wird. ich wähle als gesunder mensch jeden tag aus einer fülle von hilfsmitteln das geeignetste aus, um mir diesen wissensvorsprung zu sichern. nun stelle ich mir vor, dass ich alles was ich bisher über mein gehör aufnahm, in bilder umwandelte, in meinem gedächtnis abspeicherte, nur noch über das geschriebene wort erfassen kann.

eine behindertenfreundliche gesellschaft sieht anders aus!

und es lässt mich erzittern, weil ich schlagartig beklemmend fühle, dass mein verstand noch so wach sein kann, und alle anderen sinne noch so geschärft, und trotzdem habe ich aufgrund schlecht gewählter hilfsmittel keine chance in einer öffentlichen veranstaltung zum gleichen thema, zum gleichen ergebnis, wie ein hörender zu kommen, weil einfach wichtige informationen nicht auf meiner tafel geschrieben standen. dann stelle ich mir vor, ich muss von den lippen lesen, weil ich weder hören noch sprechen kann. und ich frage mich, warum sprechen die, die es können so schnell, dass ich keine chance haben es von ihren lippen zu lesen. warum sprechen sie so schnell, dass die stenografin nicht mit dem tippen hinterherkommt?

die nächsten fragen, die sich mir stellen, sind

habe ich überhaupt eine chance zu merken, dass mir informationen fehlen. vor allem, wenn ich von anfang an nicht 100 % gesund und mit allen funktionierenden sinnen behaftet bin. habe ich die chance mit einer körperlichen behinderung eigenständig über all hinzukommen, in jedes gebäude, über jede schwelle, zu jeder veranstaltung, an jeden ort, zu jeder information, zu jeder zeit? da liegen zettel aus, mit denen ich die veranstaltung bewerten soll. ich schaue mich um, und entdecke, dass die meisten behinderten menschen, dass „große glück“ haben mit einem betreuer hier zu sein, der ihnen bei der bewältigung ihres alltages in einer nicht barrierefreien gesellschaft, in meiner welt, über hürden hilft, die für mich keine sind. und ich frage mich weiter, wieviele menschen gibt es in deutschland, die jeden tag diese hürden überwinden müssen?

eine studie belegt, dass im durchschnitt jeder 10. einwohner im jahr 2005 mit einer amtlich anerkannten behinderung lebte. die zahl ist im vergleich zu 1999 in höhe der gesamtbevölkerung der stadt leipzig angestiegen. insgesamt sind 6,7 mio menschen schwerbehindert gewesen und 1,9 mio leichter behindert d. h. es sind 6,7 mio die täglich auf hilfe bei der bewältigung ihres alltages angewiesen sind. und was kann ich tun? größer schreiben, langsamer sprechen, besser zuhören, barrierefreier denken?

[update: 15.06.2007] meldestellen für barrieren im internet

behörden sind seit 2002 durch das behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet ihr internetangebot barrierefrei zu gestalten. leider sieht die realität aber immer noch anders aus. nur die wenigsten internetseiten der freien wirtschaft und der freien träger sind behindertenfreundlich aufgebaut.

aus diesem grund hat das „aktionsbündnis für barrierefreie informationstechnik“ im dezember vorigen jahres eine meldestelle für webbarrieren eingerichtet. hier werden zentral barrieren im internet gesammelt und die betreiber der seiten werden um beseitigung gebeten. die technik, internetseiten barrierefrei zu gestalten, hat sich leider noch nicht durchgesetzt, obwohl sie durch kurze ladezeiten, lesbarkeit für mobile telekommunikationsgeräte und gute zugänglichkeit für suchmaschinen viele vorteile aufweist. barrierefreie seiten sind auch für die immer größere anzahl der älteren internetnutzer von entscheidendem vorteil.

behinderte menschen werden ausdrücklich um ihre mithilfe gebeten. sie können am besten probleme aufzeigen, welche sich aus ihren individuellen situationen und bedürfnissen ergeben. weitere informationen finden sie hier .

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert